Donnerstag, 18. Februar 2016

Das Licht der Nacht

Wir wohnen für zwei Wochen im Februar in Finnland (Region Savonlinna) in einem Haus im Wald an einem zugefrorenen See. Es liegt viel Schnee und es ist meist etliche Grade unter Null. Sonne, Mond und Sterne lassen sich nur selten blicken. Der Himmel ist meist weiß wie der Schnee. Ab und zu bläst der Wind Schnee von den Föhren und oft schneit es.

Die Nächte sind lang, über vierzehn Stunden lang. Fast jede Nacht sitze ich mehrere Stunden am Fenster und betrachte die Finsternis und den hellen Schein, welcher den Wald durchströmt.

Ich sitze in einem bequemen Lehnstuhl. Hinter mir gibt der heiße Specksteinofen seine behagliche Wärme ab. Vor mir ist das grosse Fenster zur Veranda. Alle Lichtquellen sind ausgeschaltet. Die Kerze habe ich ausgeblasen und dem Fernseher, den ich eh nicht benutze, habe ich den Stecker gezogen damit der rote Infrarotpunkt nicht leuchtet.

Es ist völlig ruhig und dunkel. Ich sehe mit meinen Augen die dunklen Bäume und den hellen Schnee. Senkrechte, völlig schwarze Föhrenstämme - das Rot der Rinde in den oberen Partien oder gar das Grün der Nadeln sind nicht sichtbar. Die Farben, "die Taten und Leiden des Lichts" (Goethe), sind erloschen. Es gibt nur Grautöne und Schwarz. Das herumirrende Urlicht - von wo mag es nur herkommen? von den Sternen hinter den Wolken? - wirft keine Schatten.

Auf dem Waldboden und den Ästen der Bäume sehe ich den hellen Schnee. Etwas höher, hinter den Bäumen, der helle See. Am anderen Ufer des verschneiten Sees liegt ein Streifen schwarzen Waldes. Darüber die hellen Wolken. Ich vertiefe mich in die Grautöne, in das Hellere und das Dunklere. Eine sanfte Geborgenheit liegt über der Landschaft. Ich behalte die Augen offen und schaue.

Das Licht zwischen den Bäumen wabbert hin und her. Das Licht strömt um die schwarzen Baumstämme. Hüllt sie ein. Licht ist eine Flüssigkeit. Es strömt und ab und zu funkeln farbige Punkte. Zuerst nur gelbe und rote, dann auch violette, grüne. Die Nacht glitzert. Die meisten Funken erlöschen innerhalb eines Momentes. Andere bleiben etwas länger, verschwinden ohne etwas zu sagen wieder in der Finsternis.

Aber es hat nicht nur Licht in der Nacht. Da ist auch die Finsternis. Stark und ruhig steht sie da wie gefrorenes Licht. Es ist ein Wesen einer anderen, längst vergangenen Zeit. "Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser." (Moses, Gensis)

Finsternis ist genauso unfassbar wie Licht. Wenn wir von "Licht" sprechen, so meinen wir meist bloß die Reflexionen des Lichts an den Oberflächen. Nicht das Licht an sich.

Ich schaue weiter in die Nacht mit weit offenen Augen. Plötzlich kippt das Bild weg. Alle Formen sind weg. Da ich das kenne, erschrickt es mich auch nicht. Ich schaue in einen leeren Bildschirm. Keine Farben und keine Formen. Nicht einmal grau! Dann tauchen die Bäume wieder auf. Sie kommen von weit her.

Ich schaue ganz entspannt weiter in die Nacht. Übrigens, das "ganz entspannte Schauen" ist die einfachste Übung zur Aktivierung des Dritten Auges. Ich betrachte mein inneres Licht mit offenen Augen. Es scheint wie eine helle Sonne ganz oben im Zenit und schon hat sich der Wald wieder in ein Nichts aufgelöst.

Das bringt mich auf eine Idee. Ich forme eine Lichtkugel mit meinen Händen. Sie soll schön orange leuchten. Ich sehe nach draussen und konzentriere mich auf die Herstellung der Lichtkugel. Ich will sie dann über den See werfen. Aber vorher schaue ich sie mir doch noch an. Nichts von orange! Grün-blau leuchtet sie. Wie dem auch sei, ich stoße sie sanft durch die Nacht Richtung Veranda. Es passiert weiter nichts. Ich schaue einfach über den See. Da erschrecke ich! Ich drehe mich um und schaue nach hinten in die dunkle Stube. Hatte ich doch deutlich die "Spiegelung" eines orangen Kreises in der Fensterscheibe gesehen. Aber jetzt ist er weg. 

Da höre ich Schritte. Es ist drei Uhr nachts. Von vorne rechts kommt jemand durch den Schnee. Ich habe keine Sicht in diese Richtung, aber jetzt ist er nahe. Mit einem weiten, unwirklichen Sprung kommt er hoch auf die Holzveranda. Er bleibt draußen und stellt sich links neben mich, so dass ich ihn nur halb sehe und meine Sicht auf den verschneiten See erhalten bleibt. Er ist etwa einen Meter grösser als ich, in wilden schwarzen (?) Winterkleidern steht er da. Er hält eine Laterne mit einem orange leuchtenden Licht in der Hand. Er schaut mich kurz an, dann dreht er sich von mir ab - als wollte er mich nicht beängstigen -, bleibt eine Weile stehen und wir beide schauen gemeinsam über den See. Dann geht er weiter seines Weges nach links hinten.

Während seinen ersten paar "Schritten" sehe ich ihn noch. Es sind sehr weite Luftsprünge, die er macht. Ich betrachte noch eine Weile den Wald und lege mich dann wieder schlafen.


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